Guter Leonard.

Dein Brief ist angekommen. Das heißt wohl, kein geistesgestörtes Schreckgespenst metzelte dich im Zug nach Bella Italia nieder. Ich denke, das sind gute Nachrichten. Ich würde dir nie Mund, Stift oder Pinsel verbieten, Leonard, deiner Bitte jedoch kann ich nicht nachkommen. Ich kann nicht weinen.

Ich musste Konstantin sofort den Brief zeigen, du hättest sein Gesicht sehen sollen, er musste herzhaft lachen und das Papier ein paar Mal zur Seite legen, um sich das Lachen aus dem Gesicht zu wischen, er hat ganz rote Bäckchen bekommen, ich glaube, es geht ihm wieder etwas besser, es wird schon wieder wärmer draußen.

Ich hoffe doch, dass eine kleine Beule auf deiner Stirn pocht, verdient hast du sie, vielleicht platzt sie auf und lässt endlich all die schweren Gedanken frei. Ich stelle mir gerade vor, wie dein Kopf wie ein Ballon anschwillt und dich aus deinen Schuhen hebt, du in den Himmel davonschwebst, schreiend und kreischend ob deiner Höhenangst, der Ohnmacht nahe, und dann platzt du einfach. Deine Gedanken und Gedärme verteilen sich in einem Blutregen über dem Petersdom, ich hoffe, du denkst daran, mir eine Postkarte von dort zu schicken.

Ich sitze gerade am Fenster und blicke auf euren Garten, deine Mutter hat vorhin die Wäsche aufgehängt, die Bettlaken flattern im Wind. Ich wohne wieder bei Vater, Leonard, ich schreibe seine Korrespondenzen, jetzt schreibe ich dir, mein altes Bett steht noch in dem alten Dachkämmerchen, morgen werde ich den Garten vom Unkraut befreien, ich möchte Radieschen säen. Wenn du hier wärst, würdest du mir davon abraten, ich weiß, du kannst meinen Vater und seine Weltsicht nicht leiden, ich hab dir vor einiger Zeit von meinen Plänen erzählt, ich glaube nicht, dass du mir zugehört hast. Es war einfach zurückzukehren, Leonard, einfacher, als wir dachten, Vater sagte kein Wort, schaute nur, ich bin mir sicher, er freut sich auf die Radieschen, Konstantin freut sich schon, er wird wieder sein geheimnisvolles Brot backen, nur dafür, niemals kommt es in den Laden, sagt er, es geht ihm besser, Leonard, seine Backen glühen wieder.

Gestern war ich mit Lilli in der Stadt ein Kleid für mich kaufen, deine Schwester hat nach dir gefragt, ich habe ihr nicht von dem Brief erzählt, keine Sorge. Ein olivgrünes ist es geworden, aus seidenem Stoff und einer Schleife an der Taille, es würde dir gefallen, Leonard, das weiß ich, Wenzlaff wird heiraten, du weißt schon, Wenzlaff aus Konstantins Laden, er wird heiraten, stell dir vor, Leonard, der kleine Wenzlaff heiratet! Konstantin und ich sind eingeladen, das Olivgrün würde dir gefallen, wir haben das Kleid in die Schneiderei gegeben, es ist noch zu lang, ich wäre bei der Anprobe fast darüber gestolpert. Vielleicht hätte ich dann auch eine Beule davongetragen.

Es ist nicht schwer, das Leben hier zu führen, mein guter Leonard, viel einfacher, als wir dachten, es ist ganz einfach, ein schönes Kleid zu kaufen und auf eine Hochzeit zu gehen, es ist ganz einfach, Radieschen zu säen, sobald der Frost verschwindet, kann man die Samen in den Boden setzen, ich werde im Sommer wieder Butter stampfen, wie lange habe ich das nicht mehr gemacht, für Konstantins Brot und die Radieschen aus Vaters Garten. Es ist einfach, glücklich zu sein, weißt du, Leonard, hier fängt es bald wieder an zu blühen. Seit deinem Abschied ist viel passiert, wahrscheinlich stimmt das gar nicht, mir scheint es so, es passiert viel im Leben.

Natürlich fehlst du. Deine grauen Augen, in denen sich große Weltmeere auftun, die sich jeden Moment über uns ergießen könnten, uns an die Felsen schleudern und fortschwemmen. Dein schweres Herz, das uns auf den Meeresgrund zieht und uns den Atem nimmt. Konstantin ist nicht so. Als er deinen Brief las, lachte er, ich habe ihn lange nicht mehr so lachen hören, am Ende bekam er einen Hustenanfall, einen von denen, er fing den Husten mit einem Taschentuch ab und versteckte es vor mir. Ich glaube, es war Blut daran. Konstantin denkt nicht an den Tod. Er denkt an sein Brot und die Radieschen. Ich werde ihn mit der Butter überraschen.

Deine Traurigkeit fehlt hier. Deine grausamen Worte, wie du mit ihnen Träume erbaust und über uns einstürzen lässt. In deinen Gedanken sind wir schon tausendfach gestorben, von den Trümmern der Welt zerdrückt, auf dem Schlachtfeld geköpft, auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Welt ist ein Krieg, sagst du, deine Welt ist es, deine Bilder sind ein Kreuzzug gegen dich selbst.

Deine Melancholie fehlt hier. Der Schatten, den die Sonne wirft, der frische Wind, der die Härchen auf den Unterarmen in die Höhe jagt, die Atemnot, sobald man das Haus verlässt, die Schwerelosigkeit beim Blick in den Sternenhimmel.

Auch mich brachte dein Brief zum Lachen, du bringst mich immer zum Lachen, wie der Zirkusclown, der auf seinem Einrad durch die Manege stolpert, er bricht sich seine rote Nase, seine glühende Nase, vielleicht zerplatzt sie und lässt all seine schweren Gedanken frei. Das ist der Tod, den ich mir dir vorstelle.

Ich sollte Konstantin dazu überreden, zum Arzt zu gehen.

Lilli bringt mir später noch einige Schuhmuster vorbei, der Mann ihrer Freundin ist Schuster, es ist nicht ganz einfach, einen passenden Schuh für ein olivgrünes Kleid zu finden, weißt du, Leonard. Babette trug auch ein grünes Kleid, Babette hieß sie, die Puppe. Du weißt, dass es meine Puppe war, du hast uns oft beim Spielen beobachtet, glaube nicht, wir hätten das nicht bemerkt. Ich musste immer einen der wackeligen Stühle nehmen, um an die Vorhangstange zu kommen. Du weißt, dass ich leicht das Gleichgewicht verliere. Es war stets Babette, tu nicht so, als hättest du das nicht gewusst.

Vater ist soeben heimgekommen, ich habe noch Kuchen im Ofen. Da du deinem Schreiben keine Adresse mitgegeben hast, werde ich den Professor darum bitten, dir diesen Brief zu schicken.

Ich wollte deiner Bitte nicht nachkommen, doch selbst in der Ferne schaffst du es noch, deinen Willen durchzusetzen. Ich habe Tränen gelacht, bester Leonard.

In Dankbarkeit und Liebe

Deine Wilhelmine

Hier findet ihr Leonards Brief.

10 Gedanken zu “Guter Leonard.

  1. Liebe Berni di Brezel!

    Sehr schön geschrieben!
    Da könnte man sich auch gut vorstellen, dass ein charismatischer Geschichtenerzähler diesen Text auf dem Rummel in einem heimeligen Zelt wiedergibt und die Zuschauer gebannt seinen Worten lauschen!

    Herzliche Grüße
    Mallybeau 🙂

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    1. Vielen Dank, liebe Mallybeau, das erfreut das Erzählerherz. Vielleicht sollten wir das wirklich ins Programm aufnehmen, vor allem jetzt zur besinnlichen Jahreszeit würde das Geschichtenerzählen vor einem gemütlichen Feuer (vielleicht wäre der Laubosaurus dazu bereit) gut passen.
      Heimelige Grüße aus dem heimlichen Schreibkämmerchen!

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      1. Oh prima. Der Laubosaurus lässt ein warmes Feuerchen knistern, Ihr Erzähler weiß tolle Geschichten zu berichten und dazu werden gebrannte Mandeln und Glühwein gereicht. Wunderbar.

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      2. Toll. Mir fiel eben noch ein, passend zu einer spannenden Geschichte könnte auch eine warme Buchstabensuppe oder russisch Brot gereicht werden! 🙂

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      3. Das hat mir soeben alles Ihr famoser Erzähler ins Ohr geflüstert. Sie ahnen ja gar nicht, was der noch in seinem Oberstübchen parat hat. 🙂

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  2. Das ist eine absolut passende und überzeugende Replik, ohne zu verletzen und Leonard vor den Kopf zu stoßen, im Gegenteil, sein Sentiment, sein Hang zum Drama bekommt mit „Deine Traurigkeit fehlt hier. Deine grausamen Worte, wie du mit ihnen Träume erbaust und über uns einstürzen lässt“ eine leicht überhöhte Wertschätzung.
    Übrigens kann ich für Buchstabensuppe mit einem einfachen Rezept dienen;

    Redaktionsköchin Gabi Trittenheim empfiehlt: Buchstabensuppe selbst gemacht

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