Liebste Wilhelmine.

Ich sitze gerade im Zug und habe so meine Gedanken. Es werden dir womöglich düstere sein, doch nach dieser schlaflosen Nacht scheinen sie mir die einzig erträglichen. Wir haben nicht geweint beim Abschied heute Morgen, das haben wir uns stillschweigend vorgenommen, es sollte kein Abschied für immer sein, haben uns ein Wiedersehen versprochen. Doch, liebste Wilhelmine, müssen wir uns eingestehen, dass dieses Versprechen zwar edel, jedoch nicht gänzlich von uns beeinflussbar ist. Ich möchte meinen Abschied nicht dramatisieren, wir haben uns versprochen nicht zu weinen, und doch kann ich eines nicht verleugnen: Ich habe Angst, meine liebste Wilhelmine.

Nichts bereitet mir so viel Angst wie das Leben, das dort draußen an mir vorbeirauscht, das Zugfenster ist milchig, die Details verschwimmen in der Ferne. Nicht zu gehen, euch nicht zu verlassen, hätte an der Angst nichts geändert, das weißt du, du kennst mich. Ich hätte diese Nacht gerne geweint, weißt du, doch ein Klumpen steckt mir im Hals. Ich hätte dir gerne etwas gesagt, das uns die Angst nimmt, mir die Angst nimmt. Etwas Kluges, ein kluges Abschiedswort, das alles erklärt und keine Fragen offen lässt.

Und nun sitze ich hier, ich bin seit einiger Zeit allein in diesem Abteil, ich habe dein Päckchen schon geöffnet, als ich noch dein Winken sah, ich danke dir dafür, ich liebe deinen Mandelkuchen, das weißt du, doch kein Stück habe ich bisher gegessen, ich knabbere noch an meinen Gedanken. Ich denke an den Tod, liebste Wilhelmine. Der Zug könnte entgleisen, ein Irrer ins Abteil stürmen und mich niederstechen oder mein Herz just in diesem Moment stehenbleiben. Ich habe mir schon als kleiner Junge Gedanken zum Tod gemacht, es ist nicht abwegig, sich in jedem Alter mit dem Sterben zu beschäftigen, auch wenn Mutter mir manchmal den Mund verbat, wenn sie mich so reden hörte.

Der Tod, liebste Wilhelmine, lauert an jeder Ecke, er gehört zum Leben, ohne ihn wäre die Welt eine andere, ein noch größeres Chaos, das Leben noch unentspannter und sinnlos. Der Tod macht mir keine Angst, Wilhelmine, die Aussicht auf mein eigenes Sterben beruhigt mich. Doch mich ängstigt der Gedanke an euch. Mir wird mein Tod keine Schmerzen bereiten, aber euch, ich habe Mutter leiden gesehen, als Vater ging, du wirst weinen, auch wenn du dir vorgenommen hast, es nicht zu tun, du wirst weinen, liebste Wilhelmine. Ich sage das nicht aus Überheblichkeit, nicht daran zu glauben, sich nicht zu wünschen, dass der eigene Tod anderen schmerzen wird, ist selbstzerstörerisch.

Ich habe Angst um Mutter, der Gedanke daran, ich könnte ihr so viel Leid zufügen wie Vater damals, nein, es wird ein größerer Schmerz sein, das zweite Mal wird noch größer sein, ich weiß es und das bereitet mir am meisten Sorge.

Ich weiß, ich bin noch jung, auch du möchtest mir womöglich bei diesen Zeilen den Stift verbieten, liebste Wilhelmine, sollte ich jetzt sterben, wird man sagen, ich sei noch so jung gewesen, das ganze Leben noch vor mir, eine Karriere als großer Künstler, die man mir zu Lebzeiten verwehrte, ich weiß, dass du an mich glaubst, allerliebste Wilhelmine, ich danke dir dafür. Eine liebende Ehefrau, ein Haus und Kinder, drei oder vier sogar, würden sie mir am Grabe in die verlorene Zukunft schreiben, vielleicht mit dir, ich weiß, Mutter hätte es sich gewünscht, vielleicht habe ich anfangs auch daran gedacht, als ich dich das erste Mal mit dem Fahrrad an unserem Garten vorbeifahren sah. Es ist Zeit vergangen, Lebenszeit, liebe Wilhelmine, meine liebste Freundin Wilhelmine.

Die Visionen an meinem Grab machen mir Angst, daran bemessen zu werden, was man geschafft oder eben nicht geschaffen hat, an dem vollendeten Meisterwerk, ein zufälliger Farbklecks auf der Leinwand, ein Puppenhaus mit Frau und Kindern, es tut mir leid, liebe Wilhelmine, dass ich so rede, doch es ist nun einmal nichts weiter als ein Puppenhaus, wie meine Schwester es bespielte und sie bespielte es richtig, es passte alles zusammen, die Küche, die Wohnstube, die Kaffeekränzchen, der Ehestreit zwischen ihren Lieblingspuppen, wie nannte sie sie noch, so musste das Leben bespielt werden, so bespielt sie es heute noch. Versteh mich nicht falsch, liebe Wilhelmine, es liegt nichts Falsches in diesem Leben, manchmal spielte auch ich mit den Puppen, wenn die Schwester nicht zu Hause war, ich gab ihnen andere Namen und versteckte sie in der Wohnstube, in Blumentöpfen, zwischen den Büchern, an der Vorhangstange. Sie blieben nie lange dort, die Schwester fand sie immer und strafte mich keines Blickes, es war, als wären sie nie dort gewesen, das Puppenhaus und die Puppenfamilie wuchsen an Geburtstagen und Weihnachten, bis alle Wünsche erfüllt waren. Es müssen noch volle Kartons auf dem Dachboden stehen, nein, bestimmt wurden sie schon an die Nichte weitergegeben.

Ich möchte nicht an der Größe meines Erbes gemessen werden, nicht an meinem Abstand zur Ziellinie, wer hat sie überhaupt dort hingesetzt. Der Weg ist das Ziel, ich weiß, du hasst diesen Satz, liebe Wilhelmine, doch er ist wahr, er muss wahr sein, seit geraumer Zeit sehe ich draußen nichts als Wiesen und Felder, Regenwolken kommen auf, ein paar Tropfen kleben schon an der Scheibe. Es kann nicht sein, dass nur mein Ankommen am Bahnhof zählt, genau dieser Moment tut es auch, er muss es, was wäre ich sonst wert. Als ich den Koffer auf die Vorrichtung über den Sitzen hievte, stieß ich mit der Stirn gegen die Kante, lach mich nicht aus, liebe Wilhelmine, vielleicht bekomme ich eine kleine Beule, auch die hölzerne Kante muss den Aufprall gespürt haben, erinnert sich daran, wie die Vorhangstange sich an die Kunststoffbeine und das kratzige Rüschenkleid erinnert. Und auch der Schaffner, der mein Ticket lochte, erinnert sich an mich, auch wenn er mir nicht in die Augen sah, ich bin ein Teil seiner Welt geworden, seines Lebens, er wird nicht von mir erzählen, wird mich nicht in seinem Vermögen auflisten, im Testament an die Nachwelt weitergeben, doch ohne mich wäre seine Welt eine andere.

Du wirst dich an mich erinnern, liebste Wilhelmine, das wirst du. Ich bin froh, dass du dich an mich erinnerst, nicht an einen ersten Kuss, die Hochzeit, die Geburt der Kinder, Mutter hätte es gerne gesehen, auch du weißt das. Du wirst dich an mich erinnern, an meine Existenz, meinen Abdruck in der Welt, das wirst du, oder, liebste Wilhelmine, wirst du das?

Es regnet nun wirklich. Ich möchte mit dem Himmel weinen, wir haben uns versprochen, es nicht zu tun, ich weiß, liebste Wilhelmine.

Es ist doch nichts verloren, wenn ich gehe. Mein Tod gehört zu mir wie mein Leben. Wenn du mich liebst, müsstest du nicht auch ihn lieben?

Weißt du, meine liebste Wilhelmine, es beruhigt mich, über meinen Tod nachzudenken. Es macht den Abschied leichter. Ich werde sterben, allerliebste Wilhelmine, wir alle werden es, es wird nicht weniger notwendig, es auszusprechen, ich werde sterben, vielleicht heute oder morgen, vielleicht erst in fünfzig Jahren. Ich habe keine Angst davor. Ich habe gelebt. Es ist nicht wichtig, wie, messt mich nicht an den Jahren, den Zielen, den Mustern und Schablonen dieser Welt, messt mich nicht an euren Visionen. Ich habe gelebt und existiere immer und für die Ewigkeit als Teil dieser Welt, die nur durch unser Leben und unseren Tod existiert. Ich existiere. Nicht daran zu glauben, würde bedeuten aufzugeben. Klammert euch nicht an einen der Grabsteinsprüche, mein Name reicht, hier lieg ich, hier bin ich, ich bleibe. Nicht daran zu glauben, würde bedeuten, mich aufzugeben.

Geh nicht zu Mutter, sag nicht, dass ich dir über mein Sterben schreibe. Es würde sie beunruhigen.

Ich werde diesen Brief abschicken, wenn ich in Italien angekommen bin. Es kann dann auch schon zu spät sein, es ist nur ein Gedanke, liebste Wilhelmine, du kennst mich, vielleicht wird dich meine Bitte nicht mehr erreichen.

Bitte, meine liebste Freundin, weine. Ich tue es.

Auf Wiedersehen,

Dein Leonard

13 Gedanken zu “Liebste Wilhelmine.

  1. Der Brief ist sehr gut geschrieben, ein Stück Literatur. Inhaltlich spricht er mich nicht an, denn Drama-Queen wie christophrox schreibt, ist vielleicht noch untertrieben. Gerade eine empfindsame Seele müsste es doch vermeiden, seinen Liebsten Leid aufzuschwatzen.

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    1. Danke für das Kompliment. Zum Inhalt lassen wir lieber Wilhelmine etwas sagen, sie kann wahrscheinlich am besten damit umgehen. Ich denke jedoch nicht, dass Leonard seinen Liebsten Leid aufschwatzen will, im Gegenteil. Doch er ist darin halt nicht so gut 😉

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      1. Du musst dich nicht entschuldigen. Kritik ist völlig legitim, zumal es sich hier auch um ein Experiment handelt, das erstmal nicht als Roman geplant ist. Wilhelmine lasse ich auch ganz spontan antworten, ich weiß selbst noch nicht genau, was sie zu sagen hat 😉

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  2. Hätte ich die Kommentare nicht gelesen, wäre ich gar nicht auf den Gedanken einer „Dramaqueen“ gekommen. Vielleicht weil ich meine eigene Vorstellung von dem der Schreibt und von der die liest habe. Und zu den beiden passt dieser Brief auf wunderschöne Weise.
    Mich hat er gefangen genommen. Ohne Frage sehr, sehr gut geschrieben. Und auch der Inhalt – er hallt schön nach.
    Danke für diesen Text – ich mag ihn sehr.

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    1. Vielen lieben Dank für deine Worte. Es ist schön zu hören, dass du eine stimmige Vorstellung von Leonard und Wilhelmine hast. Ich hoffe, ich enttäusche sie nicht mit Wilhelmines Antwort. Ich hatte nach den Kommentaren das Gefühl, sie zu Wort kommen lassen zu müssen. Doch ich bin mir nicht sicher, ob das gelungen ist.

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      1. Ich glaube nicht das enttäuschen wird. Vielleicht aber überraschen.
        Eine Antwort Wilhelmines ist schön. Ich mag Erzählungen in Briefform sehr gerne. Sie lassen den einzelnen Figuren viel Raum.

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