Hallo Kleines.

Während ich das hier schreibe, ist nicht sicher, ob es dich je geben wird. In mir wächst eine Pflanze, ein Gänseblümchen oder ein Mammutbaum. Eine unendlich hohe Bohnenranke. In mir wächst ein Leben, die Sehnsucht einer jungen Knospe, die brechen muss, um zu erblühen. Ich nenne dich Momo. Wie das kleine Mädchen mit dem Wuschelkopf und der Schildkröte Kassiopeia, denen ich seit meiner Kindheit mit tippselnden Schritten folge, deren Geschichte mich verfolgt, seit mir deine Tante ihr Buch geliehen hat. Ich hatte ihre Geschichte nie nur für mich, immer nur für eine kurze, geliehene Zeit.

Auch du bist nur geliehen. Ein geliehenes Buch, das mit jedem Umblättern der Seiten eine neue Geschichte schreibt. Eine Geschichte, die mir nie gehören wird. Und darin liegt deine Schönheit.

Ich mache mir kein Bild von dir, Kleines. Ich will, dass du das selbst tust. Ich gebe dir nur Pinsel und Farbe, such dir selbst Pinsel und Farbe aus, ich besorge sie dir, ich ziehe die Vorhänge auf und lasse Licht in dein Atelier, damit du dich besser sehen kannst. Und deine Blüten öffnest.

Man wird dir sagen, wie du zu sein hast. Man wird dir sagen, was Leben und Liebe ist. Man wird dir sagen, wie dein Leben, deine Liebe auszusehen haben, damit es Leben, damit es Liebe ist. Du wirst nach ihren Schablonen malen, ihnen Bilder liefern, die sie verstehen, du wirst hoffen, dass dein Leben, deine Liebe auf ihre Leinwand passen, ohne zu tropfen, ohne aus dem Rahmen zu fallen. Du wirst Angst davor haben, dass du nicht in ihr Bild passt. Dass du ihr Bild zerstören wirst.

Auch dein Großvater war ein Maler. Er malte sein Leben lang, malte sich ein Haus, eine Frau, eine große Familie, ein perfektes Bild. Ich glaube ihm, wenn er sagt, dass es kein Trugbild war. Er verstand sein Handwerk, ihm gefiel, was er tat und schuf. Was er lebte und liebte. Doch mit den Jahren begannen sich die Ränder seiner sicheren Pinselstriche zu verflüssigen. Anfangs kaum sichtbar, er selbst bemerkte es nicht. Doch irgendwann begann die Farbe auf seinen neuen Bildern zu tropfen. Und seine alten Bilder zu bröckeln. Und in seine sicheren Pinselstriche schlich sich die Angst.

Die Angst, Kleines, ist eine Krankheit.

Ich weiß nicht, ob du deinen Großvater je kennenlernen wirst. Ich stelle mir vor, wie du bei ihm auf dem Schoß sitzt und er dir seine Geschichte erzählt. Wie er sein altes Atelier aufgab, um neue Farbe zu kaufen und mit den Händen an Wände zu malen. Wie er loszog, um einen Mann zu lieben. Vielleicht wird dir Großmutter erzählen, er hätte uns verlassen. Doch auf seinem Schoß, in seinen Armen mit den großen, sanften Händen wirst du wissen, dass er uns nie näher war.

Als dein Cousin geboren wurde, hatte Großmutter die Befürchtung, er könnte so werden wie Großvater. Unnormal. Dein Onkel wünschte sich einen Jungen, einen normalen Jungen, mit dem er Fußball und mit Spielzeugautos spielen, mit dem Traktor fahren konnte. Einen Mann, wie er es war, zu sein glaubte. Großmutter wird Großvaters Liebe nie Liebe nennen. Vielleicht eine Neigung. Oder eine Störung.

Die Angst, Kleines, ist eine ansteckende Krankheit.

Ich wünsche mir, dass du in eine Welt geboren wirst, in eine Familie, in der die Menschen kein Bild von dir malen, bevor sie dich überhaupt gesehen haben. In der sie keine Angst vor der Blindheit haben, keine Angst vor einer leeren Leinwand. Keine Angst davor, wer du bist. Wer du sein könntest.

Wenn du sie fragst, werden sie sagen, dass jeder sein soll, wer und wie er will, dass jeder lieben soll, was und wen er will. Aber sie werden hoffen, dass du es nicht tust. Dass du es nicht in der Öffentlichkeit tust. Dass du es nicht zur Normalität erhebst. Sie werden dir einen Keller zum Malen zur Verfügung stellen. Einen geschützten Raum ohne Fenster. Sie werden sagen, sie hätten Angst um dich, sie wollten dich beschützen, die Welt sei grausam, es wäre einfacher, sich zu verstecken, einfacher, nicht anders zu sein. Es wird nicht deine Angst sein, die sie bekämpfen. Sondern ihre eigene.

Ihre Angst vor Räumen ohne Schränke, vor Schränken ohne Schubladen. Ihre Angst vor dem Chaos. Die Angst vor deiner Kreativität.

Während ich das hier schreibe, weiß ich nicht, ob du je sein wirst. Aber ich werde dafür sorgen, dass du es bist.

Denn ich bin deine Mutter. Auch ich bin nur geliehen. Ein geliehener Körper, ein Blumentopf für deinen Sprössling, dein Atelier mit großen Fenstern. Mir ist egal, ob du ein Mädchen, ein Junge, ein Einhorn oder Pommes bist, ob du ein Mädchen oder einen Jungen oder jemand anderen liebst oder ob du niemanden liebst oder welche Liebe du liebst, mir ist egal, mit welchen Pinseln und Farben du malst oder ob du töpferst oder nähst oder still in der Ecke sitzt. Nur du, du bist mir nicht egal.

Ich habe keine Angst. Nicht vor mir. Nicht vor dir. Hab auch du keine Angst.

Deine Mutter ist eine Schildkrötenfarmerin. Ich habe einen Garten voller Schildkröten, ich gehe mit ihnen Gassi, ich lasse mich von ihnen führen. Ich gehe im Gleichschritt mit Momo und Kassiopeia. Ich gehe mein Leben in meinem Tempo. Ich träume nicht von einer Beziehung, von einem großen Haus, einem gutbezahlten Job, einer Hochzeit, einer Familie. Ich träume nicht von dir.

Du bist nicht geplant.

Sie sagen, man muss Ziele und Träume haben im Leben. Doch sie wissen gar nicht, was Träume sind. Träumen heißt, Platz zu lassen, Türen und Fenster zu öffnen, empfangen, ohne zu erwarten. Für dich Platz zu lassen.

Du bist kein Plan. Du bist. Einfach so.

Sie sagen, man muss sich selbst finden. Ich glaube nicht, dass man sich selbst finden muss. Nicht finden, nicht erfinden, nicht suchen. Ich glaube auch nicht, dass jeder seinen Weg gehen muss. Ich möchte mit Kassiopeia in der Wiese toben. Und mich setzen, hinlegen, stillstehen, wenn ich müde bin oder auch wenn ich mich lebendig fühle. Ich möchte keine Angst haben, verloren zu gehen. Ich möchte keine Angst davor haben, verloren zu gehen. Ich möchte mich nicht verlieren, suchen, finden. Ich möchte dich nicht finden, suchen, verlieren.

Während ich das hier schreibe, weiß ich nicht, ob es dich je geben wird. Doch, es gibt dich, aber vielleicht werde ich dich nie gebären. In mir wohnt ein Samenkorn, ein aus dem Vogelhäuschen gefallener Sonnenblumenkern, ein über den Schulhof gespuckter Kirschkern, eine Polle an Biene Majas Bein.

Ich gebe dir Kassiopeia an die Seite, damit sie dich begleitet, wenn ich es nicht kann. Sie soll dich das Gehen lehren. Und die Zeit. Ich gebe dir Zeit, so wie du mir Zeit gibst.

Ich weiß nicht, ob du je mein Kind sein wirst. Ob du uns je dein Leben schenken wirst. Und das ist deine Schönheit. Deine Größe, Kleines.

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