Woaßt scho

Ob du dich noch an die Melodie der Türglocke erinnerst, frage ich mich, während du an das Fensterglas des Wintergartens klopfst und Omas Gesicht hinter der Scheibe erscheint, wir durch die Tür einsteigen. Hallo, griaß di, Händeschütteln, Lächeln, Kopfnicken. Onkel Jo sitzt unverrückt auf seinem Platz auf dem Kanapee, eingesunken, von einem großen Kissen gestützt, die Arme schwer zu seiner Seite hängend, der Mund halb offen, sein Kopfnicken wirkt nervös, die Augen träge. Auf dem Couchtisch vor ihm steht ein Wasserglas mit einem Strohhalm, zu seinen Füßen die Pipiflasche. In der Ecke der zusammengeklappte Rollstuhl. Griaß di. Zaghaftes Händeschütteln.

Oma schließt die Tür hinter uns und die stickige Schwüle, die sich in den vier Wänden angestaut hat, umschlingt uns. Onkel Wolfgang mitsamt Frau und Kindern hat sich mit den Stühlen aus der Küche im Halbkreis um den Couchtisch aufgebaut. Meine Schwester und ich tauschen heimliche Blicke aus, wer sich auf das Kanapee neben Onkel Jo quetscht. Am Ende versinken wir beide in der Tiefe der Kissen, unsere Beine baumeln in der Luft, die Schüssel mit den Keksen ist unerreichbar. Oma holt die Orangenlimonade aus dem Keller, die gelbe Limo, geibs Kracherl für alle.

Und die Kuckucksuhr neben der Küchentür tickt, tick tack, während gierige Finger durch die Keksschüssel eilen, die Schokobutterkekse herauspicken, die Waffelröllchen, Gläser werden hin und her geschoben, kleine zischende Tröpfchen verteilen sich auf der geblümten Plastiktischdecke, die Noppen am Glasboden drücken kleine Dellen in das Blumenmuster. Oma steht auf, holt eine neue Kekspackung, obwohl die Schüssel noch halb voll ist, neue Schokobutterkekse, Waffelröllchen. Und wir sitzen im Kreis darum, trinken aus den Gläsern, schlucken, kauen, knuspern und die Uhr tickt, tick tack, Onkel Wolfgang erzählt.

„Jetz heast ma moi zua, hob i gsogt“, tick, „weil, hob i gsogt, des muas ma se moi voastein“, tack, „des dearf goa ned sei, hob i gsogt“, tick, „wia i hoid so bin, woaßt scho, hob i gsogt…“, tack. Onkel Jo zwinkert mir von der Seite zu. Ich grinse zurück und zähle weiter. Hob i gsogt. Tick. Schokobutterkeks. Tack. Dann das letzte Waffelröllchen. Tick. Woaßt scho. Tack. Oma holt neue Flaschen geibs Kracherl.

Fünf Minuten vor der vollen Stunde springt der Kuckuck aus seinem Häuschen, Onkel Wolfgang atmet laut ein, Brösel hängen in seinem Bart, Papa steckt sich einen trockenen Mandelkeks in den Mund, Mama gießt noch einmal nach. Und bevor der Vogel wieder schweigen kann, erzählt Onkel Wolfgang weiter. Ich zähle weiter. Tick. Woaßt scho. Tack. Hob i gsogt. Tick. Meine Beine baumeln. Tack.

Fünf Minuten später dröhnt das Läuten der Kirchenglocken nebenan durch die Wände. Durchbricht das Ticken, doch nicht Onkels Rede. Onkel Jos Blick wird glasig. Oma schaut auf. Und wir werden still, erheben uns. Papa greift Onkel Jo unter die Arme, setzt ihn wieder auf, Oma greift nach der Pipiflasche. Mama öffnet die Tür zum Garten und wir gehen raus. Stehen im feuchten Gras, meine Schwester und ich wagen uns zu den Kaninchenställen. Cousin und Cousine folgen uns. Wir stecken die Finger durch das Gitter, ziehen sie zurück, sobald sich eine Schnauze nähert, wir kichern. Omas Kopf erscheint in der Tür des Wintergartens und wir treten der Rückweg an, schlüpfen zurück in das Haus. Es riecht nach Urin. Doch wir sagen nichts.

Anstatt zurück auf das Kanapee zu krabbeln, stehen wir Kinder an der Tür, haben nasse Abdrücke von der Wiese aufs Laminat getragen, was den Müttern sofort auffällt, missfällt. Die Väter graben in ihren Hosentaschen, unsere Hände füllen sich mit Münzen, danke, vergeits God, wir werden nach draußen geschickt, tick, vageits God, woaßt scho, tack, wir rennen um die Ecke zum Wirtshaus. Zum Kaugummiautomaten. Bunte Kugeln für alle.

Wir atmen schnell und hastig, verschlucken uns an unseren eigenen Atemzügen, hier draußen ist die Luft klar, die Kinderherzen schlagen schneller. Wir schubsen und schreien, lachen und ziehen an den Haaren, weinen. Am Kaugummiautomaten kaufen wir uns die bunte Welt, die Ausgelassenheit gepresst in kleinen Kugeln. Wir zählen das Geld, nur Kaugummis, nicht das Plastikspielzeug, wir klopfen gegen die Scheibe und staunen. Bestaunen die Ringe und Figürchen, vor allem die Ringe, vielleicht gibt es was anderes als das letzte Mal. Wir werfen das Geld zusammen und zählen und rechnen und teilen, jeder darf mal einwerfen und drehen, alle nacheinander, reihum, in einer festgelegten Reihenfolge. Für jeden eine Kugel. Manchmal zwei. Manchmal schummelt sich beim Drehen eine Kugel mehr aus dem Automaten, vielleicht ist das auch nur einmal passiert, doch wir glauben an die Möglichkeit, drehen und schauen und warten. Nichts ist unmöglich. Manchmal reicht das Geld für mehr Kugeln als berechnet, eine nicht gerecht teilbare Anzahl, und wir halten die übrigen Kugeln stolz in den Händen, wir bringen sie zurück, zurück in den schwülen, süßlich duftenden Wintergarten, drücken sie den Erwachsenen in den Händen, dem Onkel, der Oma, stolz teilen wir unser Glück.

Wir klettern zurück aufs Kanapee, werden still. Manchmal behalte ich mir die Kaugummikugel und schiebe sie mir erst hier drinnen heimlich in den Mund. Meine Zähne knacken auf den harten Kugeln, sie schmecken mir gar nicht, doch sie schmecken ein bisschen nach draußen, das Knacken übertönt das Ticken der Uhr, durch das Kauen legt sich ein Schleier auf die Ohren, Onkel Wolfgangs Stimme wird zu einem Rauschen. Ich zähle nicht mehr und schaue. Schaue auf die Erwachsenen, auf das leise vor sich hin zischende Kracherl in den ausgewaschenen Senfgläsern mit den Trickfiguren darauf. Meine Wangen glühen noch ein bisschen von draußen, die bunte Unbefangenheit klebt zwischen meinen Zähnen und ich lasse die Zeit verstreichen, ohne es zu bemerken. Auch Onkel Jo bleibt unverrückt, unberührt, Oma reicht ihm das Wasserglas, für ihn keine Kaugummikugeln, er schnappt mit den Lippen nach dem Strohhalm, das muss so, ich kenne ihn nicht anders.

Ob du dich an die Melodie der Türglocke erinnerst, frage ich mich, anstatt durch den Wintergarten zu steigen, die Haustür zu benutzen, ohne den Geruch von Urin in der Nase aufzuwachen. Der Kaugummiautomat nimmt heute unsere Münzen nicht mehr an und insgeheim sind wir erleichtert, dass wir alle die Kaninchen überlebt haben, wie es jetzt wohl für dich ist, ohne Kaninchen im Garten, der Kuckuck lebt noch, Onkel Jo hängt ein Speichelfaden von der Lippe, Onkel Wolfgang erzählt noch immer, hob i gsogt, woaßt scho, die Strichliste ist lang. Wie es wohl für dich ist, hierherzukommen, heimzukommen, an dem Hintereingang zu klopfen, deine Mutter hat dich schon von weitem gesehen, hat das Auto die Einfahrt hochfahren gesehen, die Kekse aus dem Schrank geholt. Du greifst nach den Waffelröllchen, dem geiben Kracherl. Wie es wohl ist, wieder Kind zu sein, ohne sich Kind zu fühlen. Wie es wohl ist.

Ohne das Geräusch, wenn der Schlüssel noch ins Schloss passt, der Koffer über die Türschwelle rollt. Du hast die Heizung für mich angemacht, mein Geruch hängt noch im Zimmer, zwischen den Büchern, in den Kissen. Wie es wohl ist, nur noch zu Besuch bei dir zu sein, geibs Kracherl und Kekse für alle, do host a boa Mark, vageits God, hob i gsogt. Tick.

Wie es wohl ist, heimzukommen, ohne sich dahoam zu fühlen.

Vielleicht nicht ganz ein Laden, aber ein Kaugummiautomat und eine Kindheitserinnerung inspiriert von Die Läden meiner Kindheit – Ein Erzählprojekt und  Frau Grüners Knie und ein Glasengel. Eine Geschichte, die schon länger unfertig in der Schublade hockte und endlich ihre Berechtigung gefunden hat.

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12 Gedanken zu “Woaßt scho

  1. Liebe Berni die Brezel!

    Nun habe ich bereits einige Geschichten aus der Kindheit auf anderen Blogs lesen dürfen. Hier schließt sich eine weitere wunderschön erzählte an die anderen an. Man hat das Gefühl, jede einzelne Person zu kennen und könnte es glatt selbst erlebt haben. Wie gut, dass es auf dem Rummelplatz eine solch gekonnte Erzählerin wie Sie zu finden gibt! 🙂

    Herzliche Grüße an den Kaugummiautomaten
    Mallybeau – ich nehme die gebrannten Mandeln, danke!

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    1. Liebe Mallybeau,
      es freut mich, dass ich Sie auf meinem Erinnerungsbummelzug mitnehmen konnte. Ein bisschen geschummelt hab ich ja schon, ein Kaugummiautomat macht noch keinen Laden. Hier auf dem Rummel nehmen wir es aber mit dem Geschäftsmodell nicht so eng. In diesem Sinne nehmen Sie sich gerne eine doppelte Menge gebrannte Mandeln, solang sie noch heiß sind, es ist kalt draußen.
      Vielen Dank für Ihren Besuch und frohes Kauen wünscht
      Ihre Berni di Brezel

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      1. Ich danke für das großzügige Angebot und greife gleich nochmals in die Mandeltüte.
        Und auch ein Kaugummiautomat kann ja der Beginn einer großen Geschäftsidee bzw. eines Ladens sein 🙂

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  2. „Geibs Kracherl “ aus ausgewaschenen Senfgläsern gefällt mir. Die Schilderung des familiären Zusammenseins im Zuckerrausch ist dir schön plastisch geraten, wenngleich ich als Nordlicht bei der Erzählung von Onkel Wolfgang nicht mitkomme, auch ohne auf eine leise kackende Kaugummikugel zu beißen, und dass sich durchs Kauen „ein Schleier auf die Ohren“ legt, ein hübsches Bild. Dankeschön für deinen Text, auch wenn er ein wenig vom Thema weggeht, aber die Erinnerung ist es allemal wert.
    Viele Grüße,
    Jules

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    1. Musste schnell nachgucken, ob ich auch „leise kackende Kaugummikugeln“ geschrieben habe, das wär wohl eine Sorte gewesen, die uns Kinder begeistert hätte! Solltest du bei Onkels Erzählung mitkommen, wärst du wahrscheinlich eh der Einzige, er ist ein Meister der Gesprächspartikel. Ich gebe zu, ein bisschen Schummeln war dabei, aber ich nehm jede Inspiration mit, die ich kriegen kann. Ein großes Dankeschön dafür!
      Beste Grüße von den Rummelbuden
      Berni di Brezel

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  3. Ein wunderschönes Eintauchen in deine Kindheit. Es geht mir nahe und ich fühle mich ganz bei dir. Der Dialekt ist vertraut und die Familie auf wundersame Weise auch. Es ist nicht meine, aber nicht ganz unähnlich.
    Die greißlichen Kaugummikugeln…..ach was waren die toll. Ich glaube, ich mochte das Drehen am liebsten.
    Sehr, sehr gut erzählt. Danke für das Teilen :-*

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    1. Danke, liebe Mitzi, für deine Worte. Es ist wirklich immer wieder seltsam, wie Kindheitserinnerungen ein gemeinsames Gefühl von Vertrautheit erwecken, sich mit dem Teilen eine ganze Truhe an Schätzen öffnet. Wir wühlen alle gemeinsam darin. Ganz liebe norddeutsch-boarische Grüße 💛

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