Wie Mr. Banks mir meine Kindheit raubte

An jenem Sonntag parkte ich mein Auto vor dem Haus meiner Mutter mit dem folgenschweren Entschluss, dass ich ihr endlich, nach all den Jahren, das dunkelste Geheimnis unserer Familie lüften würde. Mr. Banks, den sie über alles liebte, war ein Mörder. Nur er und ich wussten davon, und er wusste, dass ich es wusste. Denn ich war an jenem verhängnisvollen Tag dabei, ich war dabei, als Mr. Banks ein wehrloses Neugeborenes ermordete. Ich hatte all die Jahre geschwiegen, mein halbes Leben mit der Gewissheit gelebt, dass unter dem Dach meiner Mutter ein Mörder wohnte, der mit uns am Tisch speiste und neben uns auf dem Sofa saß. Ich war noch ein Kind, als ich das furchtbare Verbrechen beobachtete, viel zu jung, um zu begreifen, was gerade geschehen war, niemals hatte ich gedacht, dass jemand zu so einer Tat fähig sein würde. Besonders von Mr. Banks hatte ich es nicht geglaubt. Auch ich hatte ihn geliebt. Jetzt hasste ich ihn.

Ich hatte geschwiegen. Lange Zeit glaubte ich, Schuld an dem Verbrechen gewesen zu sein. Ich hatte es nicht verhindert, nicht verhindern können, es ging viel zu schnell. Doch, ich hätte es verhindern können, hätte im Vorhinein verhindern können, dass Mr. Banks und das unschuldige Neugeborene aufeinandertrafen. In dem einen Moment hielt ich es noch in den Händen, im nächsten Augenblick war es tot.

Niemand verdächtigte Mr. Banks und ich schwieg. Ich stand unter Schock, meine Fassungslosigkeit raubte mir die Stimme, sobald mich Mr. Banks dunkle Augen trafen, erstarrte ich. Er wusste, dass ich nichts verraten würde, er hatte mich fest in der Hand. Er war jedermanns Liebling, jeder mochte ihn. Niemand würde ihm einen Mord dieser Art zutrauen. Und das machte mir am meisten Angst. Ich hatte Angst vor ihm.

Das Verschwinden des Babys wurde seinem Vater untergeschoben. Seine Vorgeschichte warf seine Schatten auf ihn, er konnte sich nicht plausibel verteidigen. Und so verbrachte er sein restliches Leben in einer abgeriegelten Zelle, bis er einsam und abgeschieden starb. Ich besuchte ihn manchmal heimlich und sah in seine traurigen Augen. Er muss an einem gebrochenen Herzen gestorben sein. Und auch daran trug ich Mitschuld. Manchmal fühlte ich mich wie der Verbrecher in der Familie. Doch ich würde jetzt mit meinem Gewissen aufräumen.

An jenem Sonntag hatte ich den Entschluss gefasst, meiner Mutter die Wahrheit zu erzählen, die ganze, ungeschönte Wahrheit. Und ich würde dabei Mr. Banks in sein noch gesundes Auge schauen, seinem eisigen Blick standhalten, der dadurch, dass sein anderes Auge mit den Jahren blind geworden und von einem permanenten grauen Schleier umschattet war, noch durchdringlicher geworden war. Auch an Mr. Banks hatte die Zeit ihre Spuren hinterlassen, neben seinem blinden Auge humpelte er leicht, seine Bewegungen waren längst nicht mehr so grazil und flink wie damals. An jenem schicksalshaften Tag.

Wie jedes Mal, wenn ich die Wohnung betrat, gab Mr. Banks sich außerordentlich freundlich und gut gelaunt. Wie immer schwänzelte er größtenteils um meine Mutter herum, die ihn mit albernen Kosenamen umschmeichelte, worauf er entzückt und umso anhänglicher reagierte. Ich hasste ihn. Hasste ihn aus vollstem Herzen. Sobald meine Mutter den Raum verließ, um Kaffee aufzusetzen, wurde Mr. Banks kalt und zurückweisend, und so saßen wir uns schweigend um den niedrigen Couchtisch gegenüber, ich starrte ihn mit einem von Sekunde zu Sekunde stärker werdenden Ekel an, während er sich unbeeindruckt kratzte. Oh Gott, wie ich ihn hasste. Und fürchtete.

Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Mutter auf die Enthüllungen reagieren würde, sie hatte ja nur noch ihn. Und mich. Mir musste sie doch glauben, ihrem Kind, ihrem leiblichen Kind. Sie musste doch über all die Jahre etwas gemerkt haben, nicht an ihm, er war gut darin, jemand vorzutäuschen, der er nicht war. Auch ich hatte mich bemüht, zu täuschen, hatte mir selbst einreden wollen, dass ich mich damals nur getäuscht hatte, es war nur ein Traum gewesen, nur ein böser Albtraum, ein Produkt kindlicher Fantasie. Oder gar eine schreckliche Halluzination, vielleicht stimmte mit mir etwas nicht, wie kann ein Kind solch grausame Gedanken haben. Es musste wahr sein, anders konnte ich mir meine Gefühle nicht erklären, die mich mein halbes Leben lang seit diesem Tag verfolgten. Sie musste doch etwas gemerkt haben, mir angesehen haben, dass mich etwas belastete. Dass etwas nicht stimmte. Gehörig nicht stimmte.

Ich hatte die ganze Samstagnacht wachgelegen und mir Worte zurechtgelegt, mir die Geschehnisse noch einmal vor Augen gerufen. Es war ein warmer Nachmittag gewesen, ich war gerade von der Schule heimgekommen, hatte den Schulranzen abgeworfen und eilig das Mittagessen verschlungen, um dann schnellstmöglich zu den Kaninchenställen im Garten zu rennen. Mein Kaninchen hatte vor ein paar Tagen Junges geworfen, die seitdem in dem dichten Nest im hintersten Eck des Stalles von der Hasenmutter bewacht wurden. Mutter hatte mir verboten, hineinzugreifen, die Jungen dürften in dieser Phase nicht von Menschen berührt und unnötigem Stress ausgesetzt werden. Erst wenn sie von selbst das Nest verlassen würden, wären sie bereit für die Welt da draußen und ich dürfte sie dann näher betrachten und Namen für sie aussuchen. Ich war neugierig und konnte es kaum erwarten, das war klar, doch ich folgte den Worten meiner Mutter, denn ich hatte Angst, etwas Falsches zu tun und den kleinen Häschen etwas anzutun. Und so lief ich jeden Tag nach der Schule zu den Kaninchenställen, um zu sehen, ob die Kleinen wohl schon das Nest verlassen hatten.

An jenem Tag streckte mir ein verschlafenes Babykaninchen seine Schnauze entgegen, als ich bei den Ställen ankam. Mein Herz machte einen Sprung, ich war wahnsinnig aufgeregt. Kurz überlegte ich, mit der frohen Botschaft zu meiner Mutter zu laufen, doch etwas überkam mich und ich öffnete die Stalltür, streichelte die plötzlich nervös werdende Hasenmutter und bewegte gleichzeitig meine freie Hand zu dem kleinen Baby, stupste vorsichtig mit dem Finger gegen seine Nasenspitze. Ein wohliger Schauer ergriff mich bei der Berührung, dieses kleine Wesen war das schönste, das ich je gesehen hatte. Meine Hände zitterten leicht vor Ehrfurcht, als ich schließlich ganz nach dem Kaninchenbaby griff und es dann in den Händen hielt. Ich konnte nicht glauben, wie zerbrechlich und gleichzeitig so wunderschön etwas sein konnte. Ich hielt das Kaninchen in die Sonne, ließ es an den Sonnenstrahlen schnuppern. Ich wollte ihm zeigen, wie schön die Welt da draußen war, es auf der Erde begrüßen, plötzlich sah ich alles durch seine Augen, als wäre ich das Kind, das die Welt von Neuem entdeckte. Ich ließ es den Wind in dem dünnen Fell spüren, ich pflückte ein Gänseblümchen und hielt es ihm an die Schnauze.

Dazu ging ich in die Knie, hielt es in der Mulde meiner Handfläche ganz nah an die hohen Grashalme, ließ es die Wiese riechen und spüren. Ich bemerkte nicht, wie Mr. Banks mich von der Terrasse aus beobachtete. Er musste schon eine Weile dort gekauert haben.

Und dann ging alles ganz schnell. Wie ein schwarzer Blitz flitzte Mr. Banks auf mich zu, riss mir das wehrlose Kaninchenbaby aus der Hand und rannte mit ihm quer über den Garten davon. Unempfänglich für das, was gerade geschehen war, kniete ich regungslos im Gras, die Handflächen immer noch zu einem Nest geformt. Erst begann mein Herz mit einer unerträglichen Härte in meinem Hals zu pochen, dann setzte sich ein Bild vor meinem inneren Auge zusammen. Das Bild eines kleinen Kaninchenkörpers, das aus dem Maul dieses elendigen Katers baumelte. Und dann rannte ich los.

Ich konnte Mr. Banks und das Kaninchenbaby nirgendwo finden. Und mit jedem weiteren Schritt wurde mir klar, dass das Baby nicht mehr zu retten war. Es war tot. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich vor den Kaninchenställen und beobachtete die Mutter und die Geschwister. Ich brachte es nicht über das Herz, es ihnen zu sagen. Meine Augen brannten. Doch sie ahnten etwas, das wusste ich, ich sah es in ihren Bewegungen, stundenlang saß ich dort im Gras und beobachtete sie. Und schielte gleichzeitig in alle Richtungen. Ich hielt Ausschau nach dem Mörder. Noch eines würde er mir nicht nehmen.
Als es dunkel wurde, rief Mutter zum Abendessen und ich verließ nur ungern meinen Posten. Ich überprüfte die Schlösser an den Ställen und warf eine Decke über das Gitter, bevor ich den Rufen meiner Mutter folgte. Ich brachte kaum einen Bissen hinunter. Mutter bemerkte nichts. Als ich es nicht mehr aushielt, war ich kurz davor, ihr alles zu erzählen, als plötzlich Mr. Banks in die Küche geschlichen kam und sich an seinem Futternapf zu schaffen machte, als wäre nichts gewesen.

Als ich ihn sah, setzte mein Herzschlag aus. Sein Schmatzen jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Ich stellte mir vor, was oder besser wen er womöglich vor ein paar Stunden gefressen hatte und ich rannte aus der Küche. Mir war speiübel. Auch die plötzlich aufkommenden Gedanken, dass Mr. Banks das Kaninchen wahrscheinlich irgendwo hatte achtlos fallen lassen, hoffentlich hatte er nicht noch damit gespielt, dass er ihm höchstwahrscheinlich schon in dem Moment, als er es mir meinen Händen entrissen hatte, das Genick gebrochen hatte, machten es mir nicht erträglicher. Im Gegenteil. Es widerte mich an. Und machte mir unendlich Angst. Sodass ich es nicht schaffte, irgendjemandem von den Ereignissen zu berichten.

An jenem Tag legte sich ein Klumpen um mein Herz, der mir die kindliche Freude raubte. Der Tag, an dem ich begann, die Schönheit zu fürchten. Und Mr. Banks zu hassen. Und ein Stückchen mich selbst. Doch das sollte sich an jenem Sonntag ändern. Ich würde Mutter alles erzählen, so hatte ich es beschlossen.

Meine Mutter kam aus der Küche mit zwei Tassen Kaffee wieder, überreichte mir eine und setzte sich neben Mr. Banks, stellte ihre Tasse auf den Couchtisch, um Mr. Banks unter dem Kinn zu kraulen. Mutter liebte ihn, liebte ihn über alles, vielleicht sogar mehr als mich. Mr. Banks schnurrte laut und unregelmäßig, ein Rasseln schlich durch seine Lunge, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Er war alt geworden, ich war mir nicht sicher, wie alt Katzen werden konnten, er schien mir unendlich alt.

Ich nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse. Wie Mutter wohl reagieren würde? Sie musste doch etwas geahnt haben. Was, wenn sie mir nicht glaubte? Oder schlimmer: Was, wenn sie es als Unfall abtat oder Instinkt, wenn sie es unter den gleichen Teppich kehrte wie all die Mäuse und Vögel. Es war nicht das Gleiche. Für mich war es nie das Gleiche gewesen. Es war Mord gewesen, hinterhältiger, grausamer Mord. Das Ende meiner unbefangenen Kindheit. Der Beginn eines Lebens in Schuld und Hass.

„Ich muss mit dir über etwas reden“, sagte ich und lugte über den Tassenrand zu dem Kater, der seinen Kopf an Mutters Oberschenkel schmiegte. „Es geht um Mr. Banks.“
Mr. Banks spitzte kaum merklich die Ohren und ich zuckte zusammen.

„Ich weiß“, sagte Mutter und hob Mr. Banks auf ihren Schoß, strich ihm in langsamen, gleichmäßigen Handbewegungen über sein ergrautes Fell. Ich schluckte.

„Ich weiß, dass du Mr. Banks immer gehasst hast“, sagte Mutter und warf mir dabei einen dieser Blicke zu, diesen Blick an meinem ersten Tag im Kindergarten, am ersten Schultag, an dem Tag, als ich ausgezogen war, ihrem Haus und Mr. Banks entflohen war.

„Aber…aber Mr. Banks ist ein…“, stotterte ich. Bevor ich das entscheidende Wort über die Lippen brachte, begann Mr. Banks, ganz fürchterlich zu kreischen, er sprang von Mutters Schoß, jagte durch das Wohnzimmer, rannte wie ein Irrer Runden um den Couchtisch, über das Sofa an die Tür, er kratzte daran, stemmte sich an dem Holz ab und raste wieder zurück, bis er plötzlich mit einem gewaltigen Sprung auf dem Fensterbrett landete und mit vollem Schwung gegen die Scheibe klatschte.

Wir begruben ihn im Garten, dort, wo früher die Kaninchenställe gestanden hatten. Mutter bestand darauf und ich wagte es nicht zu widersprechen. Meine Mutter lebte bis zu ihrem Tod in dem Glauben, dass ich ihren lieben Mr. Banks an jenem Sonntag getötet hatte, ihn mit meinem Hass in den Wahnsinn und schließlich in den Tod getrieben hatte. Was sollte ich sagen. Sie hatte Recht.

An jenem Sonntag parkte ich mein Auto vor dem Haus meiner Mutter mit dem folgenschweren Entschluss, Mr. Banks zu töten. Eine Obduktion hätte sicherlich das Gift in dem alten Katzenkörper und dem rostigen Futternapf nachgewiesen. Sollte er doch an seiner Gier ersticken.

Was soll ich sagen. Ich bin ein Mörder.

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